Die Tagesschau, beziehungsweise deren Redakteure, stellen die Gretchenfrage: „Warum sind die Zahlen immer noch so hoch?“ Und dann wird es im Artikel richtig spannend. Zunächst wird nüchtern festgestellt, dass sich Deutschland seit Anfang November im Lockdown befindet, seit zweieinhalb Monaten also. Doch die Corona Fallzahlen sind noch immer hoch.
Dann kommt die Information, dass die Zahlen derzeit nur bedingt vergleichbar seien, wegen Weihnachten und Jahreswechsel. Beides kam wohl völlig überraschend und das RKI hatte keine Gelegenheit seine statistischen Methoden wie Imputation und Nowcasting aufzupeppen, um die Zahlen doch irgendwie auswerten zu können. Dazu später mehr.
Aber sind die Zahlen, wie vom RKI publiziert, wirklich nicht gefallen? Das stimmt so nicht ganz. Wie in der folgenden Abbildung zu erkennen, ist die Inzidenz von einem Maximum von 217 Neuinfektionen pro Woche und hunderttausend Einwohner am 20.12.2020 auf zwischenzeitlich 140 am 03.01.2021 gefallen, um dann bis jetzt wieder auf 176 zu steigen.
Im weiteren Text auf tagesschau.de werden dann Fragen gestellt wie: „Gehen die Einschränkungen nicht weit genug oder halten sich zu viele Menschen nicht an die Regeln? Wo genau stecken sich die Betroffenen an?“ Um dann festzustellen, dass die „Die Suche nach Antworten [einem] Stochern im Nebel [gleicht].“ Es wird nicht besser. Man zitiert Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen der sich gegenüber der Deutschen Presse-Agentur geäußert hat. „Einerseits haben wir zwar weniger Kontakte, andererseits wissen wir scheinbar aber trotzdem wenig darüber, wo es gewesen sein könnte.“ Es gebe wenig große Ausbrüche. „Von Infektionsherden kann man nicht wirklich sprechen, eher von einzelnen Kerzen.“ Das RKI berichtet, dass Infektionsketten nicht eindeutig nachvollziehbar seien. Für Zeeb sei klar, „dass die Grundlagen für politische Entscheidungen verbessert werden müssten.“ Und „Wir wissen nicht mal hinterher, was ausschlaggebend gewesen ist.“ Die Tagesschau berichtet weiter zu Zeeb: „Weil die Pandemie noch Monate anhalten werde, sei es wichtig, gemeinsam festzuzurren, welche Daten man erheben wolle und wie diese intelligent interpretiert werden können. Das laufe bisher viel zu lückenhaft und uneinheitlich“.
Das muss man sich jetzt mal auf der Zunge zergehen lassen. Man hat sich offensichtlich noch nicht einmal darauf geeinigt, welche Daten man erheben wolle und wie diese intelligent zu interpretieren seien!?!?! Das macht fassungslos. Zunächst einmal wäre es ziemlich einfach, die Zahl der Neuinfektionen auf die Zahl der durchgeführten Tests zu normieren. Das ist kein Hexenwerk. Ich mach das mal. Das Ergebnis kann der folgenden Abbildung entnommen werden: Die schwarze Kurve entspricht exakt der Kurve aus der oberen Abbildung. Die grüne Kurve zeigt den Verlauf der Zahl der Tests über die Zeit, wobei die Zahlen auf das Maximum normiert sind und zwar so, dass das Maximum zu 100 berechnet wird. Die Normierung auf ein Maximum von 100 wurde nur gewählt, um die Kurve im gleichen Zahlenbereich zu haben, wie die Zahl der Neuinfektionen. Die rote Kurve zeigt nun die Zahl der Neuinfektionen normiert auf die Testzahlen. Ab dem 17.12.2020 beginnen die Testzahlen deutlich zu fallen bis auf etwa 50 Prozent des Maximums am 02.01.2021. Das bedeutet, dass zum Beispiel für diesen Tag die Zahl der Neuinfektionen durch 50 Prozent (oder 0,5) geteilt oder eben mit zwei multipliziert werden muss. Wendet man das Prinzip durchgängig an, kann man erkennen, dass die Inzidenz über Weihnachten und den Jahreswechsel weiter deutlich ansteigt – trotz Lockdown. So ergibt sich dann kein Maximum von 217 sondern von aktuell 364 Neuinfektionen pro Woche und hunderttausend Einwohner.
Was zunächst einmal schlimm klingt, wirkt sich auf der anderen Seite positiv auf die Fallsterblichkeitsrate aus. Nimmt man die Zahlen zu den Toten und Infizierten direkt vom RKI und berechnet daraus die Fallsterblichkeitsrate, so erhält man aktuell einen Wert von 4,88 Prozent. Das klingt schon ziemlich viel. Nimmt man aber für die Zahl der Neuinfektionen die normierten Werte, errechnet sich aktuell eine Fallsterblichkeitsrate von 2,4 Prozent, also nur knapp die Hälfte. Dies ist in der folgenden Abbildung gezeigt, in der die Fallsterblichkeitsrate basierend auf den vom RKI publizierten Werten als schwarze Kurve dargestellt sind. Die rote Kurve stellt die Fallsterblichkeitsrate basierend auf normierten Infektionszahlen dar. Die grüne Kurve zeigt den Verlauf der Testzahlen, so skaliert, dass sie ins Bild passen. Das Maximum liegt bei 0,5.
Die Rechnung kann man weiter treiben: Das RKI berichtete zu Hochzeiten der Tests eine Dunkelziffer die vier bis sechsmal höher lag als die publizierten Infektionszahlen. Da jetzt nur 50 Prozent der Tests verglichen mit dem Maximum durchgeführt werden, kann man die Zahl der Infektionen noch einmal mit einen Faktor von fünf bis zehn multiplizieren oder die Fallsterblichkeitsrate um den entsprechenden Faktor reduzieren. Unter dieser Annahme reduziert sich die Fallsterblichkeitsrate auf circa 0,5 bis 0,25 Prozent. Da diese Berechnung die Dunkelziffer an Infizierten berücksichtigt, handelt es sich beim letzten Wert um die Sterberate. Für die Influenza wird eine Sterberate von etwa 0,2 Prozent berichtet.
Kommen wir zurück zu der Problematik, dass über Weihnachten und Neujahr die Zahlen schlecht zu vergleichen seien, sowie, welche Daten man erheben und wie man diese auswerten solle. Jetzt handelt es sich bei Corona um eine so genannte ARE Erkrankung. ARE steht für Akute Respiratorische Erkrankungen. Auf den Seiten des RKI ist ein wissenschaftlicher Artikel aus dem Jahr 2000 publiziert mit dem Titel „Ein Ansatz zur Bevölkerungs-bezogenen Auswertung der deutschen Influenza-Sentineldaten“. Der Aufsatz beschreibt eine Methode zur Überwachung der Grippewellen, auch Influenza-Surveillance genannt, wobei mit einem überschaubaren Aufwand die Zahl der Grippeinfektionen feststellt werden kann. Der wichtige Begriff, den man sich hier merken muss, lautet: Konsultationsindex. Das bedeutet einfach nur, dass die Zahl der Arztbesuche (Arzt-Konsultationen) gemessen wird, bei denen eine Grippeinfektion festgestellt wurde. Diese Zahl wird dann als Konsultationen pro 100 000 Personen und Woche umgerechnet. Kommt Ihnen die Zahl bekannt vor? Genau, unsere, also Muttis Inzidenz; in diesem Kontext ‚Konsultationsinzidenz‚ genannt. Um die gemeldeten Daten in Grenzen und damit auswertbar zu gestalten, hat man bestimmte Arztpraxen (praktische, allgemeinmedizinischen, internistischen und pädiatrischen Praxen) ausgewählt, die zusammen fast 1% der gesamten hausärztlich tätigen Ärzte ausmachen. Man konnte in dem wissenschaftlichen Aufsatz zeigen, dass die errechneten Konsultationsinzidenzen eine gute Übereinstimmung mit verschiedenen Beobachtungen bezüglich der Influenza-Epidemiologie aufweisen. Desweiteren ist ein zweiter wissenschaftlicher Aufsatz aus dem Jahr 2004 unter Mitwirkung des RKI verlinkt mit dem Titel „Zur Schätzung der Konsultationsinzidenz akuter respiratorischer Erkrankungen aus Praxisdaten“. In diesem Artikel findet sich folgende Abbildung:
Man erkennt deutlich den Einbruch der Zahlen der „meldenden Praxen“ in den Kalenderwochen (KW) 51, 52 und 1, also Weihnachten und Jahreswechsel. In dem Aufsatz wird eine Methode beschrieben, wie man statistisch mit diesem Rückgang an Meldedaten umgeht, um die Zahlen auswertbar zu machen. Also alles schon lange bekannt und sogar vom RKI mit ausgearbeitet.
Warum also bleibt man stur an der Corona Inzidenz hängen, die nicht brauchbar ist, wie von der Tagesschau berichtet. tagesschau.de zitiert Zeeb sinngemäß: „Für fundierte Aussagen fehlen schlicht Daten.“ Warum verwendet man nicht eine Vorgehensweise, die im Rahmen der Grippewellen seit circa 20 Jahren erfolgreich angewendet wird, unter anderem um „die Abschätzungen der Belastungen des Gesundheitswesens durch Influenza-Wellen zu unterstützen“. Seit einem Jahr leben wir mit der Pandemie, seit zweieinhalb Monaten im Lockdown, der voraussichtlich noch bis Ostern verlängert werden soll, wenn es reicht. Und noch immer stochert man im Trüben und will das Rad neu erfinden, anstatt auf Bewährtes zurückzugreifen.