Die 50/7 Covid-19 Inzidenz – eine Mogelpackung

Unabhängig davon, welcher Zustand erreicht werden muss, um die aktuelle Pandemie in den Griff zu bekommen, sollte der Bürger einen Anspruch darauf haben, berechenbare und in sich logisch schlüssig begründete Kriterien zu erhalten, an denen er sich orientieren kann. Seit spätestens Anfang Mai wird uns in diesem Zusammenhang immer wieder von der Inzidenz erzählt. Diese Kenngröße wird als „Infizierte pro hunderttausend und Woche“, auch 50/7 genannt, angegeben. Es wird argumentiert, dass dieser Grenzwert nicht überschritten werden sollte, damit zum einen das Gesundheitswesen nicht überlastet wird und zum zweiten die Gesundheitsämter die Infektionsketten noch nachvollziehen können. Als Grundlage zur Berechnung des Wertes dienen die vom RKI gelieferten absoluten Infektionszahlen. Den Verlauf der Inzidenz, basierend auf den Zahlen des RKI, zeigt die folgende Abbildung. Es ist das gleitende 7-Tage Mittel über die Zahl täglicher Neuinfektionen dargestellt. Der zum jeweiligen Wert angegeben Zeitpunkt entspricht der Mitte dieses 7-Tage Intervalls. Man erkennt sehr gut die erste Welle mit einem Maximum von 47 Neuinfektionen pro Tag an t_{71} (01.04.2020). Das Maximum der zweiten Welle beträgt 153 Neuinfektionen pro hunderttauseund und Woche an t_{293} (09.11.2020).

Am 06.05.2020 (t_{106}), am Ende der ersten Welle, wurde die sogenannte Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro hunderttausend Einwohner und Woche festgelegt. Dieser Wert wird aus den absoluten Zahlen, wie sie das RKI täglich publiziert, berechnet. Wir wissen, dass seit Beginn der Pandemie die Testzahlen pro Woche variieren. Man darf davon ausgehen, dass, je mehr Tests durchgeführt werden, auch mehr Infizierte nachgewiesen werden. Schauen wir uns dazu den Verlauf der Zahl der Tests über die Zeit an. Dazu habe ich die von statista.com kostenfrei bereitgestellten Zahlen als Grundlage verwendet, wobei ich jedem Tag einer Kalenderwoche diesen Wert zugewiesen habe. Die so erhaltenen Tageswerte habe ich über ein 7-Tagemittel geglättet. Die Anzahl der durchgeführten Tests wurden erstmals in KW 10 veröffentlicht. Diese Kalenderwoche beginnt am 02.03.2020. Das entspricht t_{41}. Der erste dargestellte Wert aus dem gleitenden Mittel ist t_{44} (05.03.2020). Für die ersten beiden dokumentierten Wochen liegt die Zahl der Tests bei etwa 125.000 pro Woche, wobei zu KW10 angemerkt wird, dass die genannte Zahl alle bis dahin durchgeführten Tests angibt. 125.000 Tests pro Woche entspricht etwa 8% des Maximums (1,567 Mio. in KW 44). Ab Mitte März (t_{55}, 16.03.2020) steigt die Zahl wöchentlicher Tests auf im Mittel circa 370.000 an. Das entspricht etwa 23,5% oder knapp einem Viertel des Maximums. Dieses Niveau wird bis Mitte Juni beibehalten. Von etwa Mitte Juni bis Ende Juli wird die Anzahl der Tests auf im Mittel etwa 530.000 erhöht. Das entspricht knapp 34% und damit etwa einem Drittel des Maximums. Ab Anfang August bis Ende September wird die Testzahl erneut deutlich erhöht auf im Mittel circa 1,12 Millionen. Das entspricht etwa 72% oder knapp Dreiviertel des Maximums. Ab Anfang Oktober wird die Zahl der Tests noch einmal schrittweise erhöht bis zum Maximum von 1,567 Millionen in Kalenderwoche 44 (26.10. – 01.11.2020). Ab dem 09.11.2020 wird die Zahl der Tests reduziert um knapp 12 % des Maximalwerts auf circa 1,38 Millionen. Die folgende Abbildung zeigt den Verlauf der Entwicklungen in Form von Tests pro Woche (grüne Kurve) sowie einen exponentiellen Fit (rote Kurve) von Beginn der Angabe der Testzahlen bis zum zweiten Lockdown.

Man erkennt anhand der roten Kurve in der obigen Abbildung, dass die Zahl der Tests im Zeitraum Anfang März bis Anfang November exponentiell zunimmt mit einer Verdopplungszeit von 105 Tagen. Sprich, alle 105 Tage oder alle dreieinhalb Monate hat sich die Zahl der Tests verdoppelt.

Aus diesem Grund möchte ich den Einfluss der Zunahme der Anzahl an Tests auf die gemeldete Zahl täglicher Neuinfektionen betrachten. Dazu multipliziere ich jeden Tageswert der Größe Neuinfizierte pro hunderttausend und Woche mit den Testzahlen und zwar so, als ob immer mit der gleichen Maximalzahl getestet worden wäre, mit anderen Worte, ich habe diesen Wert durch den jeweiligen relativen Wert „Tests pro Woche“ dividiert. Dies ist eine ziemlich einfache mathematische Operation, die andere Einflüsse, wie veränderte Selektion zu testender Personen oder auch Änderungen der angewendeten Tests außer Acht lässt. Allerdings liegen mir persönlich keine ausreichenden Daten vor, mit denen irgendeine weitere Datenmanipulation zu begründen wäre. An Hand der roten Kurve aus der folgenden Abbildung kann man ablesen, dass mit dieser Form der Berechnung das Maximum der ersten Welle mit 184 Neuinfizierten pro hunderttausend und Woche leicht größer ist als das der zweiten Welle mit 176 Neuinfizierten pro hunderttausend und Woche. Bei dem geringen Unterschied und in Anbetracht der eher qualitativen Berechnung kann man zunächst nur schließen, dass die beiden Wellen in etwa gleich stark ausgeprägt sind. Das heißt, in beiden Wellen war die Inzidenz von täglichen Neuinfektionen pro hunderttausend und Woche in etwa gleich.

Um abschätzen zu können, ob man die Zahl täglicher Neuinfektionen proportional zur relativen Anzahl durchgeführter Tests skalieren kann, vergleiche ich die rote Kurve aus obiger Abbildung zum einen mit der Positivrate und den Todesfällen.

Die blaue Kurve der folgenden Abbildung zeigt zunächst den Verlauf der Positivtestrate, d.h. der prozentuale Anteil positiver Tests an der Gesamtzahl durchgeführter Tests. Für diese ist nur ein Wert pro Woche gegeben. Das Maximum der ersten Welle von 9% wird zum 05.04.2020 ermittelt und damit 4 Tage später als es aus der Zahl täglicher Neuinfektionen ermittelt wurde. Bezüglich der Positivrate ist noch nicht abzusehen, wann das Maximum erreicht sein wird. Der letzte bekannte Wert von 9% stellt auch das aktuelle Maximum dar. Dieses wird zum 15.11.2020 ermittelt und liegt damit ebenfalls 4 Tage später als es aus der Zahl täglicher Neuinfektionen ermittelt wurde. Die beiden derzeit ermittelten Maxima sind exakt gleich groß. Dies stimmt qualitativ mit dem Ergebnis aus der Zahl täglicher Neuinfektionen überein, die auf die Anzahl an Tests umgerechnet wurden.

Betrachten wir als nächstes die Entwicklung der Todesfälle. Diese werden als Tote pro hunderttausend und Woche angegeben. Das Maximum der ersten Welle berechnet sich zu 1,96 Toten pro hunderttausend und Woche an t_{87} (17.04.2020) und liegt damit 16 Tage nach dem Maximum der täglichen Zahl an Infizierten. Das Maximum der zweiten Welle kann noch nicht ermittelt werden. Die Kurve befindet sich noch in der steigenden Phase. Das Maximum der zweiten Welle der täglichen Zahl an Neuinfektionen wurde zu t_{295} (11.11.2020) ermittelt. Sollte sich auch für die zweite Welle ein Versatz von 16 Tagen einstellen, ist mit dem Maximum der zweiten Welle an t_{311} (27.11.2020) zu rechnen. Der aktuelle Wert an t_{305} (21.11.2020) liegt bei 1.85 und damit noch knapp 6% unter dem Wert der ersten Welle.

Die folgende Abbildung fasst den Verlauf der auf die Anzahl an Tests umgerechneten Anzahl täglicher Neuinfektionen (rote Kurve), die Positivrate (blaue Kurve) und die Zahl der Toten pro hunderttausend und Woche zusammen. Die Kurven wurden, um die vergleichende Darstellung zu ermöglichen, auf ihr jeweiliges Maximum normiert. Für die erste Welle ist zu beobachten, dass die Kurven mit ähnlicher Steilheit steigen und fallen. Das gleiche Muster deutet sich für die zweite Welle an. Es gilt noch die nächsten ein bis zwei Wochen abzuwarten, um feststellen zu können, ob das Maximum der zweiten Welle tatsächlich größer als das der ersten Welle ist.

Schlussfolgerung

Sollte sich bestätigen, dass die Maxima der ersten und zweiten Welle zwischen den drei Kurven sich vergleichbar verhalten, kann man als ziemlich gesichert annehmen, dass die Umrechnung der Zahl der täglichen Neuinfektionen mit der Zahl der durchgeführten Tests nicht nur zulässig sondern notwendig ist, um auch den Inzidenzwert entsprechend anzupassen. Da der neu berechnete Maximalwert täglicher Neuinfektionen der ersten Welle um den Faktor 3,91 größer ist als der vom RKI veröffentlichte Wert, muss auch der Inzidenzwert von 50 Neuinfektionen pro Woche und hunderttausend Einwohner mit diesem Faktor multipliziert werden. Der Inzidenzwert wird dann zu 195 Neuinfektionen pro Woche und hunderttausend Einwohner berechnet. Dieser Grenzwert ist aktuell nicht überschritten. Ein Lockdown lässt sich über den korrigierten Inzidenzwert nicht begründen.

Aktuell wird berichtet, dass die Gesundheitsämter überlastet sind und die Infektionsketten nicht mehr nachvollzogen werden können. Als Grund wird die hohe Zahl täglicher Neuinfektionen genannt. Dass Infektionsketten nicht nachvollzogen werden können ist ein wichtiges, wenn nicht das Argument, mit dem der zweite Lockdown begründet wurde. Die oben beschriebene Analyse lässt vermuten, dass auch in der ersten Welle die Zahl täglicher Neuinfektionen die Gesundheitsämter überlastet hätte, wäre die gleiche Zahl an Tests durchgeführt worden. Man kann aus den Daten ebenfalls schließen, dass es in der ersten Welle eine große Dunkelziffer von nicht festgestellten Infizierten gab. Letztere zeichnen sich im Besonderen dadurch aus, dass deren Infektionsketten nicht nachvollzogen werden konnten, da sie gar nicht bekannt waren.

Wollte man wirklich die Infektionsketten nachvollziehen, müsste man einen Großteil der Infizierten auch tatsächlich durch Tests nachweisen. Dies ist weder mit den vorhandenen Testkapazitäten möglich, noch könnte die dann noch größere Zahl an Infektionsketten von den Gesundheitsämtern nachverfolgt werden. Die Bedeutung der 50/7 Inzidenz sowie die Begründung für den zweiten Lockdown fallen damit wie ein Kartenhaus in sich zusammen.